Titel: Mein Blut an deinen Händen

Autor: Vilyana
Kategorie: Dramatisches, Nachdenkliches
Rating: ab 12
Anmerkungen: Danke an Drachenfee fürs Betalesen!
Feedback an: doro@tiski.de
Disclaimer: Gehört alles Tolkien.

Inhalt: Gedanken einer jungen Elbin der Teleri, die einen Noldo liebt, kurz nach dem Sippenmord.

Mein Blut an deinen Händen

Ich kannte nicht einmal deinen Namen, und doch habe ich dich geliebt, liebe dich immer noch, auch wenn ich dich nun hassen möchte...

Drei Tage ist es her. Drei Tage, seit du und deine Sippe uns überfallen haben. Wir haben euch nichts getan, wir leben seit Jahrhunderten friedlich hier in Alqualonde. Wir waren nicht Schuld an eurem Kummer, an eurer Unruhe, konnten eure Absichten nicht nachvollziehen. Ihr wolltet unsere Schiffe, an denen wir lange gearbeitet haben, auf die wir zu Recht stolz sein konnten, und das, um Valinor zu verlassen, gegen den Willen der Valar.
Ihr habt uns angegriffen, ihr wart uns überlegen, doch wir konnten nicht kampflos aufgeben, auch wir sind ein starkes Volk!

Wir hatten keine Chance. Gegen eure scharfen Schwerter waren unsere leichten Bögen machtlos. Ich weiß nicht, wie viele von meinem Volk gefallen sind, ich will es gar nicht wissen. Es war eine schlimme Tat, eine Schlacht, Krieg, auch wenn ihr es für den Weg in die Freiheit haltet.

Auch mein Vater ist gefallen, als er unsere Schiffe, unser Volk, verteidigte, nur einer von vielen namenlosen Gefallenen, an die sich niemand mehr erinnern wird, außer die aus meinem eigenen Volk, die, die ihn gekannt haben.
Meine Mutter ist ebenfalls tot. Sie hat den Kampf überlebt, doch sie wurde verwundet, sie starb am Abend des nächsten Tages. Verwundet durch eure Hand. Und es war nicht nur diese eine Wunde. Es war auch ihr Kummer. Sie wollte nie kämpfen, doch sie konnte euch nicht tatenlos zusehen und warten, dass sie gerettet wird, oder bis ihr sie erschlagt.

Ich fühle mich allein, hier in meinem Zimmer. Meine beste Freundin habe ich seitdem nicht mehr gesehen. Ich glaube nicht, dass sie noch lebt. Sie wäre die einzige, mit der ich jetzt über meine Gefühle reden könnte, über meinen Kummer. Doch sie ist nicht hier. Fort. Ich denke, sie hat diese Welt für immer verlassen.
Soll ich mit meinen Sorgen warten bis zum Ende der Welt? Bis ich sie wiedersehe? Das kann ich nicht!

Aber vielleicht werde ich sie bald wiedersehen... Schließlich bin auch ich verwundet worden. "Deine Wunde wird schnell heilen. Du wirst bald wieder ganz gesund sein."
Das haben sie gesagt. Sie dachten, sie sprächen die Wahrheit. Sie sahen bloß meine kleine Verletzung, meine körperliche Wunde. Aber sie sahen nicht meine wahren Verletzungen, mein gebrochenes Herz, das nie heilen wird, solange ich lebe. Solange ich lebe...

Du bist daran schuld. Auch wenn du nichts davon weißt. An beiden Wunden. Du warst es auch, der meine jüngere Schwester erschlagen hat. Sie stand auf dem Schiff. Blickte aufs Meer. Hörte den Vögeln zu. Für dich war sie eine wie jede andere. Für mich war sie das nicht. Und du warst es, der sie erschlagen hat. Es war nicht schwer für dich, sie war nicht bewaffnet, und selbst wenn, sie hätte keine Chance gegen dich gehabt. Noch heute höre ich ihre Stimme in meinem Kopf, ihren letzten Schrei, bevor sie hinunter ins Meer stürzte. Das Meer, die roten Wellen, überall Blut und tote Körper, das Meer, das ich immer gemocht habe, bis zu diesem Tag...

Dann hast du dich umgedreht. Nicht wegen mir, das weiß ich. Doch du hast mich angesehen, für einen einzigen Augenblick. Ich glaube nicht, dass du dich noch daran erinnerst. Es war der Moment, in dem du mir meine zweite Verletzung zugefügt hast, auch wenn es die geringere war, die, die wieder heilen kann. Ich war einen Moment unachtsam. Bis ich den stechenden Schmerz spürte...
Doch ich bin nicht tot. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich gefallen wäre. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich hatte keine Zeit zum Nachdenken. Nur noch Zeit zum Handeln. Mich zu wehren, bevor es zu spät war.

Aber in diesem Augenblick hast du mich angesehen, mich wieder an alles erinnert. Ich stand bei den Zwei Bäumen, die nun vergangen sind. Ich war nicht oft dort. Nur dieses eine Mal. Aber dort habe ich dich gesehen. Mich in dich verliebt. Ich habe dein Gesicht gesehen, zum ersten Mal. Und daraufhin tausendmal in meinen Träumen. Du hast mich verfolgt, hast mir keine Ruhe gelassen.

Doch du hast von alledem nichts gewusst. Würdest du mich erkennen, wenn du mich noch einmal treffen würdest? Ich glaube nicht. Du kennst nicht mal meinen Namen. Ich bin für dich nur eine junge Elbin der Teleri, so wie viele andere auch. Eine von dem Volk, das euch nicht bei eurer Reise unterstützt hat, das euch aufgehalten hat, gegen das ihr gekämpft habt, das ihr besiegt habt.

Du hast nichts von meinen Gefühlen gewusst. Und wenn doch, hättest du anders gehandelt? Ich glaube nicht. Und ich habe oft von dir geträumt. Ich habe gehofft, dich wiederzusehen. Ich habe gehofft, dass du es merken würdest. Dass du dasselbe fühlen würdest.

Ich weiß, dass ich dich immer lieben werde, auch wenn ich versuche dich zu hassen, für das, was du getan hast... Auch wenn ich nicht einmal deinen Namen kenne, sondern nur dein Gesicht...

Werde ich dich jemals wiedersehen? Ich denke nicht. Nicht in dieser Welt. Ihr werdet nicht zurückkehren. Und selbst wenn ihr zurückkehrt, dann kehrt ihr zurück in eure eigene Stadt. Wieso solltet ihr auch zurückkehren nach Alqualonde, zum Hafen der Teleri?

Nein! Es ist besser, ihr kommt nicht dorthin! Bringt nicht wieder Leid über mein Volk! Ich weiß nicht, ob ihr euch vorstellen könnt, was ihr damit angerichtet habt. Wahrscheinlich nicht. Wegen drei Edelsteinen, möge auch das Licht der Zwei Bäume darin sein.

Was soll ich tun? Meine Freundin hat diese Welt verlassen, die einzige, mit der ich hätte reden können. Und du bist fort. Soll ich hier auf dich warten, obwohl ich weiß, dass du nie zu mir zurückkehren wirst?
Ich weiß nicht, ob ich dich überhaupt wieder sehen will. Wenn ich in deine Augen sehe, höre ich die Stimme meiner Schwester in meinem Kopf. Ich sehe wieder das Blut. Und doch werde ich dich nicht vergessen können. Ich kann dich nicht einmal hassen, hassen für das, was du getan hast...

Ich stehe auf, gehe zum Fenster, sehe die Sterne. Dieselben Sterne wie vor drei Tagen. Und darunter das Meer. Das Meer, beschmutzt mit dem Blut meines Volkes, das Meer, über das du von mir gegangen bist...

Was soll ich tun? Mein Herz ist gebrochen. Ich bin allein. Ich habe keinen, mit dem ich reden kann. Ich kann nicht länger hier leben! Hier ist niemand mehr für mich. Meine Familie ist tot, meine Freundin ist tot und auch du bist von mir gegangen.

Ich spüre wieder meine Wunde.
"Sie wird heilen..."
Nein! Sie wird nicht mehr heilen, nie wieder! Mein Entschluss steht fest. Sie braucht Zeit zum Heilen, Zeit, die sie nicht hat, die sie nicht bekommen wird...

Ich betrachte meinen Dolch, mit dem ich mich verteidigt habe. Er ist voller Blut. Das Blut deines Volkes.
Wie geht es dir jetzt? Bist du glücklich oder hast du deine Taten schon bereut? Aber selbst wenn es dir Leid tut, wenn ihr wieder zurück wollt... Ich kenne euer Volk. Ihr werdet nicht zurückkehren. Dafür seid ihr zu stolz.

Aber auch ich habe mich entschieden und werde meinen Entschluss nicht ändern. Ich gehe jetzt, ich werde nicht warten, bis der Kummer mich dorthin bringt...

Ich gehe hinaus. Ein leichter Wind spielt mit meinen silbernen Haarsträhnen. Die Sterne spiegeln sich im Meer. Undeutlich erkenne ich mein Spiegelbild, meine blauen Augen sehen mich an...
Und vor mir, in meinen Gedanken, sehe ich wieder dich, dein Gesicht, wie du mich ansiehst...

Vielleicht werden wir uns ja doch bald wieder sehen. Es wird schließlich keine ungefährliche Reise für dich sein. Ich werde auf dich warten. Dort, wo ich dich wieder sehen werde, solltest du jemals zurückkehren. Ich gehe nun, zu dem Ort, wo ich vielleicht endlich Ruhe finden werde. Und ich werde auf dich warten, und wenn ich warten muss bis zum Ende der Welt, vielleicht werde ich dort die Zeit ertragen, hier würde ich es nicht...

Es ist derselbe Steg, der, auf dem meine Schwester stand, als ich sie das letzte Mal gesehen habe. Aber bald werde ich bei ihr sein. Und bei meinen Eltern, bei meiner Freundin...

Vielleicht wirst du auch bald kommen. Oder bist du vielleicht schon dort? Ich liebe dich noch immer. Und auch dann werde ich dich noch lieben. Auch wenn ich nicht mal deinen Namen kenne, nur dein Gesicht, deinen Blick, den Glanz in deinen grauen Augen...

Noch ein letztes Mal atme ich die kühle Luft ein, betrachte meinen blutbefleckten Dolch, das Blut deines Volkes. Wirst du mich dafür hassen, dass ich Angehörige deines Volkes erschlagen habe? Ich tat es nur, um mich zu verteidigen. Ich wollte nie so etwas tun. Ich wollte nie kämpfen. Ihr wart es, die mich dazu gezwungen haben, zu kämpfen oder zu sterben. Doch ich kann dich nicht hassen...

Ich spüre einen stechenden Schmerz, nur wie in Trance nehme ich wahr, dass ich falle, hinunter ins Wasser, das letzte was ich spüre, bevor mich Dunkelheit umfängt...

Ende

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